Verfasst von Gustav Feichtinger, 6.2.2017
Am 13. Dezember 2016 ist Thomas Crombie Schelling im Alter von 95 gestorben. Der US-amerikanische Ökonom war emeritierter Distinguished Professor für Außenpolitik, nationale Sicherheit, nukleare Strategie und Rüstungskontrolle an der University of Maryland. 2005 erhielt er den Nobelpreis in Ökonomie.
Es ist etwa zwanzig Jahre her, dass ich Tom Schelling zum ersten Mal begegnet bin. Damals war Peter de Janosi Direktor am IIASA (International Institute for Applied Systems Analysis im Schloss Laxenburg bei Wien), und wir bereiteten ein Programm zur Belebung der mathematischen Ökonomie an diesem Institut vor. Meine Aufgabe bestand darin, künftige aussichtsreiche Forschungsrichtungen im Bereich der Wirtschaftstheorie und Systemtheorie namhaft zu machen. Neben einigen anderen Ökonomen schlug ich dem Direktor vor, Thomas Schelling ans IIASA einzuladen. Ich erinnere mich noch gut daran, dass de Janosi mich daraufhin zu einem kleinen Zimmer unweit seines prunkvollen Büros führte. Darin saß – Tom Schelling!
Bereits seit mehreren Jahren verbrachte er jeden Sommer einige Wochen im Schloss Laxenburg. Die Bedingungen in der ehemaligen Habsburger-Residenz – die stimulierende Atmosphäre, die reichhaltige Bibliothek sowie die ausgedehnten Parkanlagen – boten dem späteren Nobelpreisträger für Wirtschafts-wissenschaften ein ausgezeichnetes Umfeld, um seinen bahnbrechenden Gedanken nachzugehen. Intern wird Schelling wohl mit anderen Wissenschaftlern am IIASA diskutiert haben – aber nach außen ist er in all den Jahren nie aufgetreten, etwa in Form öffentlich zugänglicher Vorträge.
Ich habe damals die Chance wahrgenommen, mit dem Starökonomen zu diskutieren. Egon Matzner und Helmut Frisch, zwei meiner Kollegen an der TU Wien, hatten mich auf sein bereits 1978 erschienenes Buch ‚Micromotives and Macrobehavior‘ hingewiesen, in dem ein innovativer Zugang zu Gebieten der Ökonomie eingeschlagen wird. Nach eineinhalb Stunden war Schluss mit meiner Fragerei. Ich wurde von Tom höflich, aber bestimmt hinaus komplimentiert. (Er sei zum Nachdenken hierher gekommen und nicht zum Diskutieren.)
Für mich wurde das Gespräch mit ihm zu einer Art Schlüsselerlebnis. Schlagartig verstärkte sich mein Eindruck, wie wesentlich seine Ideen über soziale Interaktionen nicht nur für die Wirtschaftswissenschaften, sondern auch fürs Operations Research waren und sind. Im Kern handelt es sich um eine einfache Tatsache: das Verhalten individueller Entscheidungsträger wird von jenem ihres Umfeldes, genauer: von einer Referenzgruppe, beeinflusst. Dieser Ansatz kann zu mehrfachen Gleichgewichten führen, deren Einzugsbe-reiche durch Schwellen, sogenannten ‚tipping points‘ getrennt werden. Vergleiche dazu die Anekdotensammlung Gladwell (2000).
Schelling hat auf einen wichtigen Aspekt der Sozialwissenschaften hingewiesen: die Makroebene beeinflusst das Mikroverhalten. Die Planung effizienter Entscheidungen hat diese Tatsache zu berücksichtigen. Die folgende Illustration beruht auf einem wichtigen Forschungsgebiet des späteren Nobelpreisträgers: seinem berühmten Segregationsmodell (Schelling, 1971). Wenn zu viele Menschen unterschiedlicher Hautfarbe in einen von weißen Familien bewohnten Stadtteil ziehen, ergreifen diese die ‚Flucht‘. Dabei wird unterstellt, dass eine Verteilung von Toleranzschwellen gegenüber anderen Ethnien existiert, oberhalb derer bestimmte Familien abwandern. Schon relativ kleine Abneigungen gegenüber anderen Gruppierungen können zur Segregation, zum ethnischen `Kippen´ von Stadtvierteln und zur Gettobildung führen.
Die von der ORCOS-Gruppe (Operations Research and Control Systems, Forschungsgruppe an der TU Wien) vorgeschlagene Erweiterung von Tom Schellings Ansatz auf dynamische Optimierung manifestiert die Relevanz seiner Ideen fürs OR sozusagen in Reinkultur. ‚Placing the poor while keeping the rich in their place: separating strategies for optimally managing residential mobility and assimilation‘ fasst der Titel der Arbeit die wesentlichen Punkte zusammen (Caulkins et al. 2005). Ein zentrales Ziel der US-Politik zur Armutsbekämpfung war das ‚housing mobility program‘. Dabei geht es um die Ansiedlung armer Familien in der Nachbarschaft von Mittelklasse-Familien mit der Absicht, die Unterprivilegierten in die Mittelklasse zu assimilieren. Eine zu aggressive Verfolgung dieses Zieles führt allerdings zu einer Abwanderung letzterer. Da diese aber wesentlich zum Steueraufkommen der Region beitragen, ist dies nicht wünschenswert. Geht man andererseits zu vorsichtig vor, können nur wenige Arme assimiliert werden. Das stilisierte intertemporale Optimierungsmodell bildet dieses Entscheidungsdilemma ab. Zwei Arten von Externalitäten bestimmen das Modell:
- eine negative Externalität, bei der zu viele Arme in der Nachbarschaft zum Wegzug der Wohlhabenderen führen, und
- eine positive Externalität, durch welche Unterprivilegierte in die Mittelklasse aufsteigen.
In diesem Spannungsfeld kommt es zu interessanten Resultaten. Für gewisse Parameterkonstellationen konvergiert das System gegen ein eindeutiges, inneres Gleichgewicht, das unweit vom stationären Zustand des unkontrollierten Systems liegt. Andererseits gibt es auch Fälle, in denen multiple Gleichgewichte auftreten. Langfristig erweist sich dabei eine Polarisierung, also die Formation von Gettos als optimal. Welches der Randgleichgewichte angesteuert wird, hängt von den Anfangsbedingungen ab. Der Prozentsatz der Mittelklasse-Bevölkerung weist einen ‚tipping point‘ auf, bei dem das Systemverhalten kippt. Oberhalb dieses Schwellwertes entsteht langfristig ein reines Mittelstandsgebiet, während schon eine geringe Abweichung unterhalb des Kipppunktes auf ein Armen-Getto führt. Auf diese Weise lässt sich die ‚Tragfähigkeit‘ (carrying capacity) einer Region abschätzen, d.h., wie viele arme Familien verkraftbar sind.
Ein anderes Anwendungsfeld von Schellings Gedankengut liegt in der Kontrolle abweichenden Verhaltens, etwa der Korruption. Während in obigem Segregationsbeispiel jeder Agent entweder unterprivilegiert oder zur Mittelklasse gehörig (schwarz bzw. weiß im ursprünglichen Ansatz), d.h. ein fixes Merkmal aufweist, obliegt es nun der Entscheidung jedes Agenten, ob er korrupt oder nicht ist bzw. bis zu welchem Grad. Andvig (1991) betrachtet den Fall binärer Entscheidungen, nämlich entweder völlig oder überhaupt nicht korrupt zu sein. Indem er sich auf Schelling (1973) bezieht (vergleiche auch Schelling 1978, Chap. 7), unterstellt er ein Diagramm von Nutzenfunktionen der Agenten, deren Wert nicht nur von deren individueller Entscheidung sondern auch vom Anteil der korrupten Individuen in der Referenzgruppe abhängt; siehe Andvig (1991, S. 71)
Caulkins et al. (2014) haben Andvig in einigen Dimensionen erweitert und präzisiert. Anstelle eine binären Korruptionsentscheidung lassen sie ein kontinuierliches Spektrum an Korruptionsintensitäten (‚degree of corruption‘) zu. Im Unterschied zu Andvig bieten sie eine explizite dynamische Analyse. Der interessanteste Fall bei Caulkins et al. ist jener, bei dem es zwei Randgleichgewichte gibt: langfristig sind die identischen Individuen entweder alle korrupt, oder alle sind ‚clean‘. Unter bestimmten Voraussetzungen hängt es dabei ausschließlich vom Korruptionsgrad in der Ausgangssituation ab, zu welchen dieser beiden stationären Randzustände das System konvergiert. Die Situation kann noch komplizierter werden, denn beide Endergebnisse (niedrige oder hohe Korruption) können nicht nur vom Ausgangszustand, sondern auch von der Erwartungshaltung smarter Agenten abhängen, was nach Koordination verlangt, um eines der Randgleichgewichte zu erreichen. Dies ist wiederum ein Punkt, den Schelling im Zusammenhang mit multiplen (statischen) Gleichgewichten erwähnt, allerdings mit dem Zusatz, dass es unter den vielen Gleichgewichten oft ein besonderes gibt, den sogenannten `focal point´. Ein solcher existiert im Modell des zitierten Paper allerdings nicht.
Dies ist ein ungewöhnlicher Nachruf. Es geht hier darum, die außergewöhnlichen Leistungen Tom Schellings in Bereich sozialer Interaktionen zu würdigen. Natürlich hat er auch andere bahnbrechende Forschungen im Bereich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften getätigt. Den Ökonomie-Nobelpreis erhielt er für seine spieltheoretischen Analysen von Konflikten. Ohne in der Spieltheorie besonders bewandert zu sein, beschäftigte er sich schon früh mit strategischen nuklearen Drohungen in Verhandlungen, Fragen der gegenseitigen Abschreckung und dem ‚Gleichgewicht des Schreckens‘. Sein 1960 erschienenes Buch ‚The Strategy of Conflict‘ wurde zum Standardwerk des militärischen OR. Die Anwendungen von Schellings Überlegungen liegen nicht nur in der Gestaltung von Verhandlungen zwischen den Supermächten, sondern auch zwischen Erpressern und deren Opfern, Unternehmern und Beschäftigten u.a.m.; vergleiche auch Schelling (1961).
Eines seiner Resultate besteht in der Stärkung der Verhandlungsposition durch Einschränkung von Optionen. Vor einem halben Jahrhundert hat Schelling Stanley Kubrick bei der Konzeption seines Films ‚Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben‘ beraten, mehr noch, er hat ihn auf die Idee dazu gebracht. Welcher berühmte Ökonom, geschweige denn Nobelpreisträger, kann so etwas schon von sich sagen?
Während der Griechenlandkrise hat damalige Finanzminister und Spieltheoretiker Varoufakis eine Brinkmanship-Strategie verfolgt, die eine große Rolle im Rahmen der Abschreckung im Kalten Krieg spielte und von Schelling (1960) in seinem Buch ‚The Strategy of Conflict‘ beschrieben wird. Dixit and Skeath (1999) diskutieren diese Strategie ebenfalls ausführlich. Hier bringt ein Spieler einen anderen an den Rand des Abgrunds in der Erwartung, dass der andere bereits vorher aufgibt. Dies war auch das (mehr oder weniger) korrekte Gefühl von Varoufakis, dass die EU um allen Preis den Euro retten will. Wie die meisten Eltern wissen, Kinder sind (nach Schelling) darin Experten.
Gegen Ende seiner Karriere beschäftigte er sich dann mit der Analyse von Suchtverhalten. Dabei untersuchte er die Selbstbindungen, mit denen man sich Rauchen und Trinken abgewöhnen könne. Die Breite seiner Forschungsthemen illustriert auch der Aufsatz Schelling (1968), in dem er über den statistischen Wert eines Lebens spekuliert. Feichtinger et al. (2011) haben gezeigt, dass dieser `value of life´ in natürlicher Weise als Teil des Schattenpreises eines alters-strukturierten `optimal control´ Modells auftritt.
Mit Thomas Schelling ist ein außergewöhnlicher und scharfer Denker von uns gegangen. Bereits Jahrzehnte vor dem Aufkommen nichtlinearer dynamischer Systeme in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften hat er Grundlegendes im Bereich sozialer Interaktionen, mehrfacher Gleichgewichte und von Kipppunkten (sogenannten Skiba-Schwellen im Bereich der dynamischen Optimierung) aufgedeckt. Der an zusätzlichen Details interessierte Leser sei in diesem Zusammenhang auf die Monographie Grass et al. (2008) verwiesen. Mit Bifurkationstheorie und Kontrollmodellen hat sich Schelling konkret nicht auseinandergesetzt. Aber seine Arbeiten tragen dem Keim für vielfältige einschlägige Anwendungen in sich. In diesem Sinn kann er wohl mit dem berühmten österreichisch-deutsch-amerikanischen Ökonomen Joseph Schumpeter verglichen werden. Dieser hat – gemäß eigener Aussage – zu wenig höhere Mathematik beherrscht, um seine Ideen damit zu untermauern.
Seine Nachfolger, allen voran Paul A. Samuelson, haben sich dann dieser Aufgabe reichlich gewidmet. Ähnlich wie Schumpeter haben Schellings Ideen eine Mathematisierung der Ökonomie eingeleitet. Pfadabhängigkeit optimaler Trajektorien und das für nichtlineare dynamische Systeme symptomatische Kippverhalten – zentral für die intertemporale Optimierung – zählen zum Vermächtnis des Verstorbenen fürs Operations Research.
DANKSAGUNG
Bei der Vorbereitung dieses Artikels haben mich folgende KollegInnen unterstützt: F.X. Hof, A. Fuernkranz-Prskawetz, A. Seidl, R. Kovacevic, F. Wirl, S. Wrzaczek. Hof und Wirl haben mir geholfen, den Zusammenhang der Papiere von Andvig (1991) und Caulkins et al. (2014) mit Tom Schellings Ansätzen zu klären. Pavel Kabat, der IIASA-Direktor, war großzügig genug, Fotos des Nobelpreisträgers zur Verfügung zu stellen. Ihnen allen sei für diese Hilfe gedankt.
LITERATURHINWEISE
Andvig Jens Chr. (1991): The economics of corruption. A Survey. Studi Economici 43 (1), 57 – 94.
Akerlof George A. (1980): A theory of social custom, of which unemployment may be one consequence. Quarterly Journal of Economics 94, 749 – 775.
Caulkins Jonathan P., Feichtinger Gustav, Grass Dieter, Johnson Michael, Tragler Gernot, Yegorov Yuri (2005): Placing the poor while keeping the rich in their place: Separating strategies for optimally managing residential mobility and assimilation. Demographic Research 13 (1), 1 – 34.
Caulkins Jonathan P., Feichtinger Gustav, Grass Dieter, Hartl Richard F., Kort Peter M., Novak Andreas J., Seidl Andrea, Wirl Franz (2014): A Dynamic Analysis of Schelling´s Binary Corruption Model: A Competitive Equilibrium Approach. Journal of Optimization Theory and Applications 161 (2), 608 – 625.
Dixit, Avinash K., Skeath Susan, S. (1999): Games of Strategy; W.W Norton & Comp., Inc., New York.
Feichtinger Gustav, Kuhn Michael, Prskawetz Alexia, Wrzaczek Stefan (2011): The reproductive value as part of the shadow price of population, Demographic Research 24, Article 28, (Formal relationships 14), 709 – 718.
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Grass Dieter, Caulkins Jonathan P., Feichtinger Gustav, Tragler Gernot, Behrens Doris A. (2008): Optimal Control of Nonlinear Processes. With Applications in Drugs, Corruption, and Terror. Springer, Heidelberg.
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